Mich erschreckt Weinen ganz besonders. Ich kann nicht weinen. Weinen anderer kommt mir wie eine unbegreifliche fremde Naturerscheinung vor. Ich habe im Laufe vieler Jahre nur vor zwei, drei Monaten einmal geweint, da hat es mich allerdings in meinem Lehnsessel geschüttelt, zweimal kurz hintereinander, ich fürchtete mit meinem nicht zu bändigendem Schluchzen die Eltern nebenan zu wecken, es war in der Nacht und die Ursache war eine Stelle meines Romans.
Tatsächlich gehörte es zu Kafkas Eigenheiten, dass er sich vom Schicksal anderer Menschen viel leichter rühren ließ als vom eigenen Leid – und zwar unabhängig davon, ob es sich um reale oder fiktive Personen handelte. Das bestärkte Kafka in seiner Empfindung, am wirklichen Leben gar nicht teilzunehmen. Das Geniessen menschlicher Beziehungen ist mir gegeben, ihr Erleben nicht, schrieb er an seine Verlobte Felice Bauer, nachdem ein Kinofilm ihn zum Weinen gebracht hatte. Da ihm – inmitten einer schweren Krise – nur zwei Wochen später in einem anderen Kino das gleiche widerfuhr, liegt freilich die Vermutung nahe, dass die traurigen Szenen ihm lediglich einen emotionalen Zugang zur eigenen Trauer öffneten.
In zwei Fällen lassen sich Lektüreerlebnisse, die Kafka weinen ließen, genauer bestimmen. Geschluchzt über dem Processbericht einer 23jähr. Marie Abraham, notierte er 1913 im Tagebuch, die ihr fast 3/4 Jahre altes Kind Barbara wegen Not und Hunger erwürgte mit einer Männerkrawatte, die ihr als Strumpfband diente und die sie abband. Ganz schematische Geschichte.
Auffallend ist hier der Begriff »schematisch«, mit dem man doch eher die Qualität eines plots beschreiben würde. Doch das sozial tausendfach durchgespielte Schema machte diese »Geschichte« für Kafka ebenso trostlos wie einen billigen Roman. Das empfanden wohl auch die Geschworenen des Prozesses so. Denn wie im ausführlichen Bericht des Prager Tagblatt nachzulesen, sprachen sie das Dienstmädchen nicht nur frei, sondern sammelten spontan Geld für sie.
Einige Jahre später, im Herbst 1916, schrieb Kafka an Felice Bauer: Bei einer Stelle musste ich zu lesen aufhören und mich auf das Kanapee setzen und laut weinen. Ich habe schon seit Jahren nicht geweint. Er bezog sich damit auf Arnold Zweigs Schauspiel Ritualmord in Ungarn, über das er sich ansonsten recht kritisch äußerte. Gegen Ende des Stücks gibt es jedoch eine ausgesprochen rührende Szene, in der die Mutter des Mordopfers, mittlerweile erblindet und resigniert, unwissenderweise dem Mörder ihrer Tochter begegnet und ihn für ihren Wohltäter hält.
Dass Kafka in Gegenwart anderer gänzlich die Fassung verlor, ist offenbar nur ein einziges Mal geschehen — nach dem endgültigen Abschied von Felice Bauer. An jenem Tag Ende 1917 tauchte Kafka überraschend in Max Brods Büro auf: »Um sich für einen Moment auszuruhen, sagte er. Er hatte eben F. zur Bahn gebracht. Sein Gesicht war blaß, hart und streng. Aber plötzlich begann er zu weinen. Es war das einzige Mal, dass ich ihn weinen sah. Ich werde diese Szene nie vergessen, sie gehört zu dem Schrecklichsten, was ich erlebt habe.« Schon am folgenden Tag schrieb Kafka an seine Schwester Ottla, er habe an diesem Vormittag mehr geweint als in all den Jahren seit seiner Kindheit.
Quellen: Brief an Felice Bauer, 28. November 1912, in: Franz Kafka, Briefe. 1900–1912, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1999, S. 278. – Brief an Felice Bauer, 6. November 1913, in: Franz Kafka, Briefe. 1913–März 1914, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1999, S. 295. – Brief an Felice Bauer, 28. Oktober 1916, und Brief an Ottla Kafka, 28. Dezember 1917, in: Franz Kafka, Briefe. April 1914–1917, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2005, S. 268f., 390. – Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1990, S. 564, 595 (Einträge vom 2. Juli und 20. November 1913). – Max Brod, Über Franz Kafka, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1974, S. 147. – Prager Tagblatt, Abend-Ausgabe vom 2. Juli 1913, S. 3.