Ein beträchtlicher Teil von Kafkas schriftlichem Vermächtnis besteht aus persönlichen Mitteilungen und Aufzeichnungen, die überwiegend nicht zur Publikation bestimmt waren: Erhalten sind etwa 1.500 Briefe sowie 12 Hefte mit Tagebucheintragungen, daneben einige Notizblocks und Konvolute loser Blätter.
Ein Großteil dessen, was wir über Kafkas psychische und soziale Existenz sowie über seine Beziehungen zu fremder und eigener Literatur wissen, entstammt diesen Dokumenten. Als besonderer Glücksfall muss dabei gelten, dass bestimmte Zeitabschnitte sowohl durch Briefe als auch durch Tagebucheintragungen dokumentiert sind: Auf diese Weise gewinnt man ein gleichsam dreidimensionales Bild, in dem sich Innen- und Außenperspektive überlagern.
Briefe
Obwohl Kafka häufig und gern die edierten Briefe von Schriftstellern las, hätte er den Begriff ›Briefwerk‹ gewiss entschieden abgelehnt. Dennoch hat er die eigenen Briefe gelegentlich behandelt, als seien sie Literatur: Er integrierte seitenlange, mit literarischen Mitteln gestaltete Episoden, die auch ohne den brieflichen Kontext bestehen könnten, und er schrieb Briefe im Tagebuch Wort für Wort ab, wenn sie von grundsätzlicher Bedeutung waren. Umgekehrt kommt es vor, dass Briefe nur als Entwürfe im Tagebuch erhalten sind. Auffällig ist schließlich die Akribie der Korrekturen, die sich in den Brieforiginalen beobachten lässt und die an die Arbeit in Manuskripten erinnert.
Kafkas Briefe sind insgesamt weitaus ›literarischer‹ als die nahezu aller zeitgenössischer Autoren. Selbst Postkarten, die nur einer sachlichen Mitteilung dienen, enthalten häufig überraschende sprachliche oder metaphorische Wendungen, die dann in den Tagebüchern oder in den literarischen Versuchen wiederkehren und dort weiter entfaltet werden. Höfliche Floskeln fehlen dagegen gänzlich — selbst dann, wenn Kafka den Adressaten kaum oder gar nicht persönlich kannte.
Das ist weniger einem literarischen ›Ehrgeiz‹ zu verdanken als vielmehr der Tatsache, dass Briefe für Kafka weitaus mehr waren als bloßer kommunikativer Behelf. Häufig dienten sie ihm dazu, einen lebendigen Kontakt zu ›simulieren‹ und die eigene soziale Vereinsamung zu durchbrechen. Besonders augenfällig ist das im Fall Felice Bauers: Hier entwickelte Kafka eine wahre Sucht nach Briefen und reagierte panisch auf jede nicht angekündigte Unterbrechung des Briefstroms.
Ein Sonderfall ist in dieser Hinsicht Kafkas umfangreicher Brief an den Vater, der zwischen Selbstreflexion, sozialem Handeln, brieflicher Mitteilung und literarischer Gestaltung eine genaue Balance hält.
Das inhaltliche Verständnis der Briefe wird bisweilen dadurch erschwert, dass die Gegenbriefe fehlen: Um den Frauen, mit denen er befreundet war, die Furcht vor Kompromittierung zu nehmen, hat Kafka deren Briefe entweder zurückgegeben oder vernichtet (ein damals weithin übliches Verfahren). Ein regelrechter Briefwechsel hat sich lediglich im Fall Max Brods erhalten, allerdings nur für die Zeiten, in denen Kafka von Prag abwesend war. Auch einige Briefe Kurt Wolffs an Kafka sind überliefert.
Die chaotischen politischen Verhältnisse, die Exilsituation und das furchtbare Schicksal vieler von Kafkas Briefpartnern hat zum Verlust zahlreicher Briefe geführt. Dass seine Briefe an Ernst Weiß, an Julie Wohryzek und vor allem an Dora Diamant eines Tages wiederaufgefunden werden, ist wenig wahrscheinlich.
Tagebücher
Ein ähnlich zweideutiges Bild bieten die Tagebuchhefte: Einerseits zählte Kafka sie zu seinen persönlichsten Dokumenten, deren Veröffentlichung keinesfalls in Frage kam (obwohl er geradezu gierig die Tagebücher anderer Autoren las). Andererseits erscheinen sie im höchsten Maße literarisch überformt. Konkrete Tagesnotizen, literarische Einfälle und Versuche stehen häufig auf ein und demselben Blatt, ja, oft sind die Übergänge auf den ersten Blick gar nicht kenntlich. Persönliche Eintragungen enthalten gelegentlich Streichungen und Textvarianten. Auch längere erzählerische Texte gibt es, für deren Niederschrift Kafka sein jeweils aktuelles Tagebuchheft benutzte.
Die Tatsache, dass es in Kafkas Freundeskreis üblich war, sich wechselseitig aus Tagebüchern vorzulesen (und bei Reisen sogar konkurrierende Tagebücher zu führen und zu vergleichen), hatte wohl ebenfalls Einfluss auf deren ›literarische‹ Gestalt. Noch in späten Jahren, da Kafka sein privates Leben kompromisslos abschottete, fand er sich bereit, Milena Jesenská seine Tagebücher zur Lektüre zu überlassen.
Offensichtlich ist, dass die Funktion des Tagebuchs sich für Kafka mit zunehmendem Alter veränderte. Dominierte anfangs noch die Lust an der puren Beschreibung, der treffsicheren Benennung signifikanter (vor allem gestischer) Details, so wurde das Tagebuch später zum Medium der Selbstvergewisserung, der Reflexion, der Erinnerung. Häufig öffnete Kafka seine Hefte einzig zu dem Zweck, sich zu beruhigen und zu stabilisieren. Die spätesten Aufzeichnungen sind durchsetzt von privaten Kürzeln und Codewörtern (»Angriff«, »Feind«, »Gespenst«) — ein Indiz dafür, dass diese Blätter keinesfalls für fremde Augen bestimmt waren.
Kafkas erhaltene Tagebücher befinden sich heute in der Bodleian Library in Oxford. Die vor 1909 entstandenen Aufzeichnungen hat Kafka vermutlich selbst vernichtet; weitere Notate aus den späten Jahren gingen bei Hausdurchsuchungen der Gestapo verloren, die sich gegen Dora Diamants Ehemann Lutz Lask richteten.