Das Urteil
Das Urteil nimmt in Kafkas literarischem Werk eine Sonderstellung ein, in mehrfacher Hinsicht. Zum einen entstand die Erzählung in einer einzigen Nacht (22./23. September 1912), ohne jede Störung des Schreibprozesses; diese idealen Bedingungen hat Kafka dann immer wieder angestrebt, ja, er war sogar eine Zeitlang der Auffassung, wirkliche Literatur könne überhaupt nur auf diese Weise entstehen.
Zum anderen steht Das Urteil am Beginn einer produktiven Phase, die bis Ende Januar 1913 andauerte und in der Kafka weitaus intensiver arbeitete als jemals zuvor. Drittens schließlich ist Das Urteil der erste abgeschlossene Text, in dem Kafka seinen ›reifen‹ Stil zeigt: Die Sprache ist schlicht, alle Details sind funktional aufeinander bezogen, und die für Kafka typische Erzählstrategie, den Leser in die Selbsttäuschungen des Protagonisten hineinzuziehen, zeigt sich hier erstmals in reiner Form.
Sowohl der Autor als auch seine ersten Leser und Kritiker waren sich dessen sofort bewusst, dass es sich um einen literarischen ›Durchbruch‹ handelte; erst nach der Niederschrift des Urteils hat sich Kafka im Ernst als Schriftsteller definiert. Das Urteil ist nicht nur sein einziges Werk, dessen autobiografischen Ursprüngen er durch nachträgliche Analyse auf die Spur zu kommen suchte; es ist auch das einzige, das er in Prag öffentlich vorlas und dessen separate Veröffentlichung er von seinem Verleger Kurt Wolff geradezu forderte.
Vermutlich hat Das Urteil stark dazu beigetragen, dass Kafka bereits zu Lebzeiten dem literarischen Expressionismus zugerechnet wurde. Der Machtkampf zwischen Vätern und Söhnen galt als typisch expressionistisches Thema, und auch die im Urteil augenfällige Bedeutung ›expressiver‹ Gesten (die Kafka dem jiddischen Theater abgeschaut hatte) legt diesen Zusammenhang nahe. Im Gegensatz zur literarischen Avantgarde der Zeit — zu Autoren wie Benn, Lasker-Schüler oder Ehrenstein — orientierte sich Kafka jedoch an klassischen Vorbildern wie Goethe und Kleist; sprachliche Exaltationen waren ihm ein Gräuel, auf Worterfindungen verzichtete er konsequent.
Die Verwandlung
Die Verwandlung ist neben dem Process Kafkas bekanntestes Werk. Vor allem ist es wohl der außergewöhnliche plot, das Schicksal eines Menschen in grässlicher Tiergestalt, der sich dem kollektiven Gedächtnis eingegraben hat.
Die Verwandlung entstand ab Mitte November 1912 und gehört damit derselben intensiven Schaffensphase an wie Das Urteil und Der Verschollene. Zur Niederschrift benötigte Kafka knapp drei Wochen, unterbrochen durch eine zweitägige Dienstreise: eine Störung, die seiner Ansicht nach sichtbare Spuren im Text hinterließ.
Um die Publikation der Verwandlung bemühte sich Kafka nicht mit demselben Nachdruck wie im Fall des Urteils. Dennoch war er höchst erfreut, als durch Vermittlung von Robert Musil die Neue Rundschau (S. Fischer Verlag, Berlin) die Erzählung zur Veröffentlichung annahm — und entsprechend enttäuscht, als nachträglich eine beträchtliche Reduktion des Umfangs verlangt wurde. Einen derartigen Eingriff musste Kafka natürlich ablehnen; Die Verwandlung erschien daher erst im Oktober 1915 in der Zeitschrift Die weißen Blätter, kurz darauf auch als Buch im Kurt Wolff Verlag.
Bereits den frühen Lesern der Verwandlung fiel auf, dass der Text weder der ›phantastischen Literatur‹ noch dem Realismus zuzurechnen ist; und den Expressionisten war zwar der Kunstgriff vertraut, eine innere Befindlichkeit körperhaft nach außen zu stülpen, doch die schrille expressionistische Tonart ist hier ebenso wenig zu vernehmen wie im Urteil. Gerade der Gegensatz zwischen der betont sachlichen Sprache, der stetigen Entfaltung des Geschehens und der Ungeheuerlichkeit der Verwandlung selbst ist wesentlicher Teil des kalkulierten ästhetischen Reizes.
Neu und modern wirkte nicht zuletzt die konsequente Einschränkung der Perspektive auf die des Helden und das scheinbare Verschwinden des allwissenden Erzählers. Dieses Formprinzip war Kafka offenbar besonders wichtig: Er perfektionierte es in seinen Romanen Der Process und Das Schloss, während er an der Verwandlung vor allem den Schlussabschnitt bemängelte, in dem er — nach dem Tod Gregor Samsas — die einsinnige Perspektive notgedrungen aufgeben musste.
Die Vielzahl autobiografischer Bezüge in der Verwandlung ist mittlerweile akribisch erforscht (siehe dazu das Fundstück ›Die Wohnung der Samsas‹). Das Motiv des denkenden und sprechenden Tieres hat Kafka in späteren Werken noch häufig variiert (u.a. Ein Bericht für eine Akademie, Schakale und Araber, Forschungen eines Hundes, Der Bau, Josefine die Sängerin oder Das Volk der Mäuse).
In der Strafkolonie
Die Erzählung entstand im Oktober 1914 in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Process und ist wohl auch thematisch als ›Ableger‹ des Romans zu betrachten: Hier wie dort geht es um eine Art Standgericht, das sich um die Verteidigung des Angeklagten nicht schert und bei dem die Verkündigung des Urteils identisch ist mit dessen Vollstreckung.
In der Darstellung körperlicher Grausamkeit geht Kafka allerdings in der Erzählung sehr viel weiter als im Roman. Offenbar gingen die Gewalt- und Straffantasien, von denen er immer wieder heimgesucht wurde, eine Verbindung ein mit den Bildern verstümmelter Körper, die ihm aus seiner beruflichen Tätigkeit bei der Unfallversicherung vertraut waren. Beeindruckt war Kafka zweifellos auch von den ersten in Prag kursierenden Augenzeugenberichten eines hochtechnisierten Krieges, in dem alles vom ›Material‹ abzuhängen schien, ja selbst die Kämpfenden zum ›Menschenmaterial‹ wurden (wenngleich die von Kafka geschilderte Software-gesteuerte Exekutionsmaschine über die technischen Möglichkeiten seiner Zeit weit hinausging).
Kafka selbst hat diesen Zusammenhang gesehen und ausdrücklich gerechtfertigt. Als sein Verleger Kurt Wolff ihm den »peinlichen« Eindruck gestand, den die Erzählung auf ihn machte, antwortete Kafka, »dass nicht nur sie peinlich ist, dass vielmehr unsere allgemeine und meine besondere Zeit gleichfalls sehr peinlich war und ist und meine besondere sogar noch länger peinlich als die allgemeine«.
Die schockierende Wirkung des Textes hat Kafka vermutlich dennoch unterschätzt. Als er im Herbst 1916 eine Einladung zu einer Lesung in München erhielt, war er sofort entschlossen, dort In der Strafkolonie vorzutragen, obwohl ihm klar war, dass er damit die staatliche Zensur provozierte. Doch er beruhigte sich mit dem erstaunlichen Argument, das Werk sei »in seinem Wesen unschuldig«.
Aus heutiger Sicht ist Kafkas Erzählung kaum mehr abzulösen von den epochalen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, von denen nicht mehr er selbst, wohl aber seine Familie betroffen wurde: Die gleichgültige, ›saubere‹, automatisierte Vernichtung menschlichen Lebens, die Gleichzeitigkeit archaischer Rechtsbegriffe und avancierter Technik, der Kurzschluss zwischen Ideologie und Mord. Auch wenn die Erzählung unter sehr privaten Qualen entstand: Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Kafka dieses kommende Unheil nur deshalb ›prophetisch‹ vorwegnehmen konnte, weil es in seinem nächsten Umfeld bereits erkennbar oder erahnbar wurde.