Am Abend des 10. November 1916 las Kafka in der ›Galerie Hans Goltz‹ in München seine noch unveröffentlichte Erzählung In der Strafkolonie nebst einigen Gedichten seines Freundes Max Brod. Unter den höchstens fünfzig Zuhörern befanden sich die Schriftsteller Gottfried Kölwel, Eugen Mondt und Max Pulver sowie Kafkas Verlobte Felice Bauer, die eigens aus Berlin angereist war. Auch Rilke war sehr wahrscheinlich anwesend.
Dem Bericht Pulvers zufolge, der erstmals 1953 veröffentlicht wurde, nahm diese Lesung einen höchst bemerkenswerten Verlauf:
Ein dumpfer Fall, Verwirrung im Saal, man trug eine ohnmächtige Dame hinaus. Die Schilderung ging inzwischen fort. Zweimal noch streckten seine Worte Ohnmächtige nieder. Die Reihen der Hörer und der Hörerinnen begannen sich zu lichten. Manche flohen im letzten Augenblick, bevor die Vision des Dichters sie überwältigte. Niemals habe ich eine ähnliche Wirkung von gesprochenen Worten beobachtet.
Dieser Bericht ist der Ursprung einer der beliebtesten, weil dämonischsten Kafka-Legenden, ungeachtet der Tatsache, dass es sich offenkundig um eine Slapstick-Phantasie handelt. Ein Dichter, der ungerührt weiterliest, während seine Zuhörer teils hinausgetragen werden, teils auf eigenen Beinen das Weite suchen — kaum vorstellbar, dass die Presse sich einen derartigen Vorfall hätte entgehen lassen.