Kafka las sehr gern vor, auch aus eigenen Werken, bevorzugte jedoch einen überschaubaren und einigermaßen vertrauten Kreis von Zuhörern. Häufig las er den Schwestern vor, vor allem Ottla, offenbar mehrfach auch den Eltern, regelmäßig den Freunden Max Brod, Oskar Baum, Felix Weltsch, Franz Werfel sowie deren Angehörigen. Überliefert sind weiterhin Lesungen in der Familie seiner Verlobten Felice Bauer sowie im Salon von Emilie Marschner, der Ehefrau seines obersten Vorgesetzten in der Arbeiter-Unfall-Versicherung. Auch Werke anderer Autoren, etwa Kleist, Hebel, Grillparzer und Dickens, las Kafka im privaten Kreis öfters vor, einmal auch bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung im Jüdischen Rathaus von Prag (Dezember 1913).
Zu öffentlichen Lesungen eigener Werke wurde Kafka insgesamt nur zweimal eingeladen, in beiden Fällen hat er akzeptiert. So las er bei einem Autorenabend der Prager Herder-Vereinigung im Dezember 1912 die kurz zuvor entstandene Erzählung Das Urteil. Seine einzige öffentliche Lesung außerhalb Prags bestritt Kafka im November 1916 in München; dort las er in der ›Galerie Goltz‹ die noch ungedruckte Erzählung In der Strafkolonie.
Die Resonanz in der Presse war hier allerdings durchweg negativ: Teils wurde die schockhafte Wirkung des Textes, teils aber auch Kafkas unzulänglicher Vortragsstil bemängelt. Zu vermuten ist, dass Kafka sehr viel zurückhaltender vortrug, als es zu seiner Zeit üblich war, und dass er dadurch auf manchen Zuhörer blass wirkte.
In den letzten Lebensjahren, als sein Name dem Publikum schon etwas geläufiger war, hätte Kafka aufgrund seiner Tuberkulose-Erkrankung wohl keine öffentliche Lesung mehr durchstehen können.