Kafkas Lieblingslied

Nun leb wohl, du kleine Gasse,
 nun ade, du stilles Dach!
  Vater, Mutter, sah'n mir traurig
   und die Liebste sah mir nach.

Hier in weiter, weiter Ferne,
 wie's mich nach der Heimat zieht!
  Lustig singen die Gesellen,
   doch es ist ein falsches Lied.

Andre Städtchen kommen freilich,
 andere Mädchen zu Gesicht;
  ach, wohl sind es andere Mädchen,
   doch die eine ist es nicht.

Andre Städtchen, andere Mädchen,
 ich da mitten drin so stumm!
  Andre Mädchen, andere Städtchen,
   o wie gerne kehrt ich um.

 

Es handelt sich um einen Text von Albert Graf von Schlippenbach (1833), der nach einer Melodie von Friedrich Silcher (1853) gesungen wird. Der letzte Vers jeder Strophe wird jeweils wiederholt. (Das Lied auf YouTube.)

Aus Jungborn im Harz, wo sich Kafka in ›Rudolf Just’s Kuranstalt‹ aufhielt, schrieb er am 22. Juli 1912 an Max Brod:

Kennst Du Max das Lied »Nun leb wohl...« Wir haben es heute früh gesungen und ich habe es abgeschrieben. Die Abschrift heb mir ganz besonders gut auf! Das ist eine Reinheit und wie einfach es ist; jede Strophe besteht aus einem Ausruf und einem Kopfneigen.

Kafkas Abschrift hat sich auf einem losen Blatt erhalten; unter dem Text des Liedes notierte er: »Das hätte ein Graf Schlippenbach machen sollen?« – Einige Monate später, am 17./18. November 1912, schrieb er an Felice Bauer:

So reisse ich aus meinem diesjährigen Reisetagebuch ein Blatt nach dem andern heraus und bin unverschämt genug, es Dir zu schicken. Suche es aber wieder dadurch auszugleichen, dass ich Dir ein Blatt, das gerade aus dem Heft gefallen ist mitschicke, mit einem Lied, das man im diesjährigen Sanatorium öfters am Morgen im Chor gesungen hat, in das ich mich verliebt und das ich abgeschrieben habe. Es ist ja sehr bekannt und Du kennst es wohl auch, überlies es doch einmal wieder. Und schicke mir das Blatt jedenfalls wieder zurück, ich kann es nicht entbehren. Wie das Gedicht trotz vollständiger Ergriffenheit ganz regelmässig gebaut ist, jede Strophe besteht aus einem Ausruf und dann einer Neigung des Kopfes. Und dass die Trauer des Gedichtes wahrhaftig ist, das kann ich beschwören. Wenn ich nur die Melodie des Liedes behalten könnte, aber ich habe gar kein musikalisches Gedächtnis.

 

Quellen: Franz Kafka, Briefe 1900–1912, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1999, S. 164 und 243; Tagebücher, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1990, Apparatband, S. 64.