Eine der charakteristischen Eigenheiten Kafkas war es, dass er Antipathien so gut wie nie zu erkennen gab. Selbst in seinen Tagebüchern finden sich allenfalls mild ironische, kaum jedoch streitbare oder aggressive Äußerungen über andere. Die jahrelange ›Pflege‹ von Feindschaften, wie sie etwa Max Brod mit beträchtlichem Aufwand betrieb, war Kafka völlig fremd, und selbst in den sehr seltenen Fällen, da Bekanntschaften in Zerwürfnissen endeten – wie mit dem Schriftsteller Ernst Weiß –, fand er noch Worte des Verständnisses.
Um so auffallender die einzige Ausnahme von dieser Regel: Über die in Berlin lebende Schriftstellerin Else Lasker-Schüler äußerte sich Kafka mit ungewöhnlicher Schärfe, und ganz gegen seine sonstige Gewohnheit ließ ihn auch ihr persönliches Unglück kalt.
»Ich kann ihre Gedichte nicht leiden«, schrieb er an Felice Bauer, »ich fühle bei ihnen nichts als Langweile über ihre Leere und Widerwillen wegen des künstlichen Aufwandes. Auch ihre Prosa ist mir lästig aus den gleichen Gründen, es arbeitet darin das wahllos zuckende Gehirn einer sich überspannenden Grossstädterin. Aber vielleicht irre ich da gründlich, es gibt viele, die sie lieben, Werfel z.B. spricht von ihr nur mit Begeisterung. Ja, es geht ihr schlecht, ihr zweiter Mann hat sie verlassen, soviel ich weiss, auch bei uns sammelt man für sie; ich habe 5 K hergeben müssen, ohne das geringste Mitgefühl für sie zu haben; ich weiss den eigentlichen Grund nicht, aber ich stelle mir sie immer nur als eine Säuferin vor, die sich in der Nacht durch die Kaffeehäuser schleppt.«
Im Jahr 1913 kreuzten sich die Wege Kafkas und Lasker-Schülers gleich zweimal. Zunächst an Ostern im Berliner Literatencafé Josty; dieses Treffen ist dokumentiert durch eine gemeinsame Postkarte an den Verleger Kurt Wolff, unterzeichnet von einer Reihe von Autoren, darunter Kafka und Lasker-Schüler. Zwei Wochen später, am 4. April, kam Lasker-Schüler zu ihrer ersten Lesung nach Prag, wo sie schon am Bahnhof von einer Gruppe von Fans empfangen und später zu einem nächtlichen Rundgang durch die Altstadt geführt wurde. Dabei kam es zu einem burlesken Zwischenfall, den die Prager Tageszeitung Bohemia folgendermaßen schilderte:
»Die Dichterin und der Polizist. Heute um zwölf Uhr nachts erregte ein kurzer Vorfall die Beachtung der nächtlichen Passanten. Auf dem Altstädter Ring wurde eine abenteuerliche gekleidete Dame von einem Wachmann in brüsker Weise angefahren, weil sie mit verzückten Mienen und rhythmischen Schwingungen ihres Leibes unzusammenhängende Worte gegen das Firmament sang… Die Dame, die ein schwarzes Gewand und um den Hals, der von schwarzen, wallenden Locken umsäumt war, eine Onyxkette trug, war Else Lasker-Schüler. Vergeblich machten die Begleiter der Dichterin… den Polizisten darauf aufmerksam, dass es sich um einen exotischen Gast aus Theben handle (Else Lasker-Schüler spricht sich in ihren Gedichten immer als Prinz von Theben an), der hier ein morgenländisches Gebet verrichte. ›Das ist mir wurscht!‹ antwortete der Wachmann, ›hier darfs niemand nicht singen‹ und forderte energisch die weltentrückte Dichterin zum Einstellen des Gesanges auf. Erschreckt fuhr diese zusammen und, erregt dem Wachmann das Wort ›Prinz‹ ins Gesicht schleudernd, entfernte sie sich…«
Es lässt sich nicht belegen, ist aber durchaus möglich, dass Kafka nicht nur die Lesung Lasker-Schülers besuchte, sondern auch Zeuge dieses Vorfalls war.
Quellen: Franz Kafka, Brief an Felice Bauer, 12./13. Februar 1913, in: Briefe 1913 – März 1914, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1999, S. 88. – Hartmut Binder, ›Else Lasker-Schüler in Prag‹, in: Wirkendes Wort 3 (1994), S. 405-438.