Bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren schachtelförmige Handkameras verbreitet, die für Hobbyfotografen erschwinglich waren und die auch leicht genug waren, um auf Reisen mitgeführt zu werden. Max Brod besaß eine solche Kamera, mit der er beispielsweise in Weimar seinen Freund Franz Kafka gemeinsam mit dem Teenager Margarethe Kirchner fotografierte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er auch auf anderen mit Kafka unternommenen Reisen den Apparat im Gepäck hatte, doch sind in Brods Nachlass bisher keine weiteren frühen Fotos aufgetaucht.
Auch Kafkas Verlobte Felice Bauer besaß einen Fotoapparat. Als sie Kafka Anfang Juli 1915 für einige Tage in Karlsbad traf, verknipste sie mehrere Filme, und das Paar fotografierte sich auch wechselseitig. Doch da die Fotoamateurin sämtliche Rollfilme verkehrt herum eingelegt hatte, blieben sie zu Kafkas großer Enttäuschung alle unbelichtet.
Ein einziges Foto hat überdauert, von dem wir sicher wissen, dass Kafka es war, der den Auslöser drückte. Dieses Foto entstand am 4. November 1917 im nordwestböhmischen Dorf Zürau, wo Kafka für einige Monate auf einem von seiner Schwester Ottla bewirtschafteten Hof lebte.
An jenem Tag – einem Sonntag – erhielten die Geschwister überraschenden Besuch aus Prag: Es erschienen Kafkas 30jähriges ›Maschinenfräulein‹ Julie Kaiser sowie deren Freund und späterer Ehemann August Kopal, ebenfalls ein Bürokollege Kafkas, der einen Fotoapparat mitbrachte. Gemeinsam mit zwei Mägden, die Ottla beschäftigte, machte man einen Rundgang durchs Dorf, und bei dieser Gelegenheit entstanden auch einige Gruppenaufnahmen.
Zwei davon sind erhalten, sie zeigen jeweils Ottla in der Bildmitte und die Sekretärin Julie Kaiser rechts im dunklen Mantel. Die beiden Männer waren es, die den Fotoapparat bedienten: Kopal fotografierte Kafka (rechts unten), und Kafka fotografierte Kopal (rechts oben), wobei das Ergebnis deutlich unschärfer ausfiel. Das Foto links zeigt dieselben Gebäude 90 Jahre später: Ottlas Scheune und Stall sind noch wiedererkennbar.
Quellen: Postkarte an Felice Bauer, 10. Juli 1915, und Brief an Max Brod, 6. November 1917, in: Franz Kafka, Briefe 1914-1917, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S.Fischer) 2005, S. 137 u. 358.