Dafür gibt es keinerlei Beleg. Kafka war durch Frauen sexuell verhältnismäßig leicht beeindruckbar, was ihn selbst immer wieder in Verlegenheit brachte und sozial hemmte (mit Bezug auf seine Adoleszenz sprach er sogar vom »ewig jammernden Körper«). Zu Prostituierten ging Kafka während seiner Studentenzeit regelmäßig, dann offenbar immer seltener, da er diese Form der Entlastung als entwürdigend und deprimierend empfand.
In späteren Jahren fürchtete Kafka starke sexuelle Erregungen, da sie seine abnehmende psychische Stabilität bedrohten: So kürzte er zum Beispiel Aufenthalte in der Stadt ab, um sich nicht gegen die dortigen »halbnackten Frauen« »wehren« zu müssen.
Dass sexuelle Leidenschaft in seinen wichtigen Beziehungen eine so auffallend geringe Rolle spielte, ist nicht auf homosexuelle Tendenzen zurückzuführen, sondern auf die damals grassierende, von Freud präzise beschriebene Art der ›männlichen Objektwahl‹: Heftig begehrte und sexuell aktive Frauen kamen als Ehepartnerinnen nicht in Frage; Frauen jedoch, die man verehrte oder die romantische Gefühle einflößten, wollte man nicht ›beschmutzt‹ sehen. In Kafkas Aufzeichnungen gibt es zahlreiche Indizien dafür, dass diese Spaltung bei ihm zeitlebens besonders ausgeprägt war. Offenbar war er in dieser Hinsicht ›bürgerlicher‹ als die meisten anderen Autoren seiner Zeit.
Natürlich kann man in Kafkas Werken und Tagebüchern auch Spuren einer ›latenten‹, das heißt überwiegend unbewussten Homosexualität finden. Da es aber keinen Menschen gibt, der nicht latente homosexuelle Anteile in sich trägt, ist der Erkenntniswert solcher Spurensuche fraglich.
Auffallend und auch charakteristisch für Kafka ist allerdings, dass er das plötzliche Auftauchen unbewusster sexueller Phantasien sehr heftig erfahren und dann auch literarisch bearbeitet hat (anstatt sie sofort zu vergessen, zu verdrängen oder zu rationalisieren, wie es zumeist geschieht). So finden sich in seinem Werk und in den Tagebüchern Szenen von ausgeprägtem Sadismus, Masochismus und Voyeurismus, während es keinerlei Hinweis darauf gibt, dass diese Phantasien seine gelebte Sexualität übermäßig beeinflusst oder gar beherrscht hätten.