Sie sind sehr sonderbar Frau Milena, Sie leben dort in Wien, müssen dies und jenes leiden und haben dazwischen noch Zeit sich zu wundern, dass es andern, etwa mir nicht besonders gut geht und dass ich eine Nacht ein wenig schlechter schlafe als die vorige. Da hatten meine hiesigen 3 Freundinnen (3 Schwestern, die älteste 5 Jahre alt) eine vernünftigere Auffassung, sie wollten mich bei jeder Gelegenheit ob wir beim Fluss waren oder nicht, ins Wasser werfen undzwar nicht etwa deshalb weil ich ihnen etwas Böses getan hatte, durchaus nicht. Wenn Erwachsene Kindern so drohen, so ist das natürlich Scherz und Liebe und bedeutet etwa: Jetzt wollen wir zum Spass einmal das Allerallerunmöglichste sagen. Aber Kinder sind ernst und kennen keine Unmöglichkeit, zehnmaliges Misslingen des Hinunterwerfens wird sie nicht überzeugen können, dass es nächstens nicht gelingen wird, ja sie wissen nicht einmal dass es in den zehn Fällen vorher nicht gelungen ist. Unheimlich sind Kinder, wenn man ihre Worte und Absichten ausfüllt mit dem Wissen des Erwachsenen. Wenn eine solche kleine Vierjährige, die zu nichts da zu sein scheint, als sie zu küssen und an sich zu drücken, dabei stark wie ein kleiner Bär, noch ein wenig bauchig aus den alten Säuglingszeiten her gegen einen losgeht und die zwei Schwestern helfen ihr rechts und links und hinter sich hat man nur schon das Geländer und der freundliche Kinder-Vater und die sanfte schöne dicke Mutter (beim Wägelchen ihres vierten) lächeln von der Ferne dem zu und wollen gar nicht helfen, dann ist es fast zu ende und es ist kaum möglich zu beschreiben wie man doch gerettet wurde. Vernünftige oder ahnungsvolle Kinder, wollten mich hinunterwerfen ohne besonderen Grund, vielleicht weil sie mich für überflüssig hielten und kannten doch nicht einmal Ihre Briefe und meine Antworten.
Die Passage stammt aus einem der ersten der zahlreichen Briefe, die Kafka aus Meran, wo er 1920 seine Tuberkulose zu kurieren versuchte, an seine Übersetzerin Milena Pollak (geb. Jesenská) schrieb. Ob sie die Episode kommentierte, ist nicht bekannt; ihre Antwortbriefe sind nicht überliefert.
Quelle: Brief an Milena Pollak, ca. 19. Mai 1920, in: Briefe 1918-1920, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2013, S. 143f.