Ein Damenbrevier
Wenn man sich in die Welt aufatmend entläßt, wie vom hohen Gerüst der Schwimmer in den Fluß, gleich und später manchmal von Gegenstößen wie ein liebes Kind verwirrt, aber immer mit schönen Wellen zur Seite in die Luft der Ferne treibt, dann mag man wie in diesem Buch ziellos mit geheimem Ziel die Blicke über das Wasser richten, das einen trägt und das man trinken kann und das für den auf seiner Fläche ruhenden Kopf grenzenlos geworden ist.
Verschließt man sich jedoch diesem ersten Eindruck, dann erkennt man bis zur Überzeugung, daß der Verfasser hier mit einer förmlich ungestillten Energie gearbeitet hat, die den Bewegungen seines unablässigen Geistes – sie sind zu schnell, als daß sie Zusammenhang verrieten – Kanten zum Erschrecken gibt.
Und dies vor einer Materie, die in der zuckenden Entwicklung, welche sie erfährt, an die Versuchungen erinnert, die vom Schreien unsichtbarer Wüstentiere angetrieben, Einsiedler einst erfrischten. Doch schwebt diese Versuchung nicht vor dem Verfasser als kleines Balletkorps auf ferner Bühne, sondern sie ist ihm nah, sie umpreßt ihn stark, bis er sich in sie verschlingt und ehe er es noch von der Dame erfuhr, schrieb er schon: »Aber man muß lieben, um sich mit Grazie hingeben zu können«, sagte Annie D., eine schöne blonde Schwedin.
Was ist es nun für ein Anblick, wenn der Verfasser in diese Arbeit so verstrickt uns erscheint, getragen von einer Natur, gleich jenen Wolken aus Stein, die einmal im Barock die Gruppen im Sturmwind sich umarmender Heiliger erhoben. Der Himmel, in den das Buch in der Mitte und gegen Ende ausbrechen muß, um durch ihn die frühere Gegend zu retten, ist fest und überdies durchsichtig.
Natürlich besteht niemand darauf, daß die Damen, für die der Verfasser geschrieben hat, dies wirklich sehn. Ist es doch genügend und mehr als das, wenn sie, vom ersten Absatz schon gezwungen, wie es sein muß, fühlen werden, daß sie in ihren Händen einen Beichtspiegel halten und einen besonders treuen. Denn die Beichte, die man so nennt, geschieht in einem ungewohnten Möbelstück, auf dem Boden eines ungewohnten Raumes im halben Licht, das alles ringsherum und auf und ab mit Zukunft und Vergangenheit nur halb wahr macht, so daß notwendig auch alle Ja und Nein, die gefragten und die geantworteten halb falsch sein müssen, besonders wenn sie ganz ehrlich sind. Wie könnte man aber hier an ein wichtiges Detail vergessen in der gewohnten mitternächtlichen Beleuchtung während eines leisen Gespräches (leise, weil es heiß ist) nahe beim Bett!
Kafkas erste von nur drei veröffentlichten Rezensionen erschien am 6. Februar 1909 in der kurzzeitig von Herwarth Walden redigierten Berliner Zeitschrift Der neue Weg, dem Fachblatt der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger. Sie bezog sich auf eine kurz zuvor erschienene Publikation von Franz Blei: Die Puderquaste. Ein Damenbrevier. Aus den Papieren des Prinzen Hippolyt.
Auch hier, wie so häufig, war vermutlich Max Brod der Initiator. Er hatte bereits erste literarische Texte Kafkas an die von Franz Blei gegründete Zeitschrift Hyperion vermittelt, und er hatte die beiden Autoren persönlich miteinander bekannt gemacht. Die Veröffentlichung der Rezension in der Zeitschrift Der neue Weg geht wohl ebenfalls auf Brods Initiative zurück, denn auch mit Herwarth Walden stand Brod in Verbindung.
Anders als für die überwältigende Mehrzahl zeitgenössischer Autoren spielte das Verfassen von Rezensionen für Kafka niemals eine nennenswerte Rolle. Etwas ›auf Bestellung‹ zu liefern fiel ihm schon in seinen frühen Jahren sehr schwer, und nach dem Beginn seiner literarischen Reife, den er auf 1912 datierte, war es ihm gänzlich unmöglich.
Auch sein Text über Bleis Puderquaste ist weniger eine Rezension als vielmehr eine dichte Abfolge durch die Lektüre angeregter, scheinbar nach eigenen Gesetzen sich fortpflanzender bildlicher Assoziationen, wie sie für seinen frühen Stil charakteristisch sind. Über den Inhalt des rezensierten Buchs hingegen erfährt der Leser so gut wie nichts – abgesehen davon, dass es sich um einen »Beichtspiegel« handeln soll. Tatsächlich ist Die Puderquaste eine Ansammlung feuilletonistischer Skizzen und Betrachtungen über buchstäblich Gott und die Welt.
Franz Blei, der keineswegs disziplinierter schrieb als der junge Kafka, war mit der Besprechung trotz allem zufrieden, wie er Brod unmittelbar nach Erscheinen bestätigte: »Was Kafka in der Zeitschrift über die Puderquaste schrieb ist sehr fein«.
Quelle: Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, hrsg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann, Frankfurt am Main 1996, S. 381-383 und Apparatband, S. 495f.
Die Zuordnung von Kafkas Besprechung wurde in der Zeitschrift Der neue Weg noch dadurch erschwert, dass der Titel des besprochenen Werks lediglich aus einem unscheinbaren, entgegen Kafkas Wunsch ans Ende gerückten Vermerk ersichtlich war: »Im Verlag Hans von Weber erschien ›Die Puderquaste‹ von Franz Blei.« Kafka schickte die Rezension schon am Tag nach Erscheinen an Blei (am 7. Februar 1909), überliefert ist jedoch nur dessen Reaktion gegenüber Brod. (Siehe Franz Kafka, Briefe 1900-1912, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main 1999, S. 97.)