Nicht immer war mir in der letzten Zeit so schlecht, es war auch schon zeitweilig sehr gut, mein Hauptehrentag war aber etwa vor einer Woche. Ich mache in meiner ganzen Ohnmacht den endlosen Bassin-Rundspaziergang auf der Schwimmschule, es war schon gegen Abend, viele Leute waren nicht mehr dort, aber immerhin noch genug, da kommt der zweite Schwimmeister, der mich nicht kennt, mir entgegen, sieht sich um als ob er jemanden sucht, bemerkt dann mich, wählt mich offenbar und fragt: Chtěl byste si zajezdit? [Möchten Sie eine Fahrt machen?] Es war da nämlich ein Herr, der von der Sophieninsel heruntergekommen war und sich auf die Judeninsel hinüberfahren lassen wollte, irgendein grosser Bauunternehmer glaube ich; auf der Judeninsel werden grosse Bauten gemacht. Nun muss man ja die ganze Sache nicht übertreiben, der Schwimmeister sah mich armen Jungen und wollte mir die Freude einer geschenkten Bootfahrt machen, aber immerhin musste er doch mit Rücksicht auf den grossen Bauunternehmer einen Jungen aussuchen, der genügend zuverlässig war sowohl hinsichtlich seiner Kraft, als auch seiner Geschicklichkeit, als auch hinsichtlich dessen, dass er nach Erledigung des Auftrages das Boot nicht zu unerlaubten Spazierfahrten benutzt, sondern gleich zurückkommt. Das alles also glaubte er in mir zu finden. Der grosse Trnka (der Besitzer der Schwimmschule, von dem ich Dir noch erzählen muss) kam hinzu und fragte ob der Junge schwimmen könne. Der Schwimmeister, der mir wahrscheinlich alles ansah, beruhigte ihn. Ich hatte überhaupt kaum ein Wort gesprochen. Nun kam der Passagier und wir fuhren ab. Als artiger Junge sprach ich kaum. Er sagte, dass es ein schöner Abend sei, ich antwortete: ano [ja] dann sagte er, dass es aber schon kühl sei, ich sagte: ano, schliesslich sagte er, dass ich sehr rasch fahre, da konnte ich vor Dankbarkeit nichts mehr sagen. Natürlich fuhr ich in bestem Stil bei der Judeninsel vor, er stieg aus, dankte schön, aber zu meiner Enttäuschung hatte er das Trinkgeld vergessen (ja, wenn man kein Mädchen ist) Ich fuhr schnurgerade zurück. Der grosse Trnka war erstaunt, dass ich so bald zurück war. – Nun, so aufgebläht vor Stolz war ich schon lange nicht wie an diesem Abend, ich kam mir Deiner um ein ganz winziges Stückchen, aber doch um ein Stückchen mehr wert vor als sonst. Seitdem warte ich jeden Abend auf der Schwimmschule ob nicht wieder ein Passagier kommt, aber es kommt keiner mehr.
Zum Zeitpunkt dieses anekdotischen Erlebnisses war Kafka bereits 37 Jahre alt, wurde jedoch wegen seines mageren, knabenhaften Körpers offenbar von gleich mehreren Personen auf höchstens zwanzig geschätzt. Noch kurioser wird der Vorfall, bedenkt man, dass Kafka nicht nur promovierter Jurist und Abteilungsleiter, sondern auch ein sehr geübter Schwimmer und Ruderer war, der jahrelang sogar ein eigenes Boot auf der Moldau besaß – was keineswegs selbstverständlich war zu einer Zeit, da noch viele Erwachsene Nichtschwimmer waren und Rudern als unbürgerlich galt. Allerdings hatte die Geschichte auch einen makabren Zug, wie der Adressatin des Briefs, Milena Jesenská, sicherlich bewusst war. Denn seit drei Jahren litt Kafka an Lungentuberkulose, und bereits beim schnellen Gehen machte sich diese Krankheit mit Atemnot bemerkbar. Das flotte Rudern muss für Kafka äußerst strapaziös gewesen sein, und dass er sich während der Überfahrt mit seinem Passagier nicht unterhalten konnte, ist daher nicht verwunderlich.
Die ›Schwimmschule‹ war eine von Kafka häufig aufgesuchte öffentliche Flussbadeanstalt an der Sophieninsel (heute Slovanský ostrov), die ›Judeninsel‹ (heute Dětský ostrov) liegt unmittelbar gegenüber am linken Ufer der Moldau. Der »Hauptehrentag« spielt darauf an, dass Milena am Tag dieses Briefes 24 Jahre alt wurde; der kleine Seitenhieb wegen des Trinkgelds (»ja, wenn man kein Mädchen ist«) bezieht sich darauf, dass Milena als Gepäckträgerin am Wiener Westbahnhof gute Trinkgelder bekommen hatte.
Quelle: Brief an Milena Jesenská, 10. August 1920, in: Franz Kafka, Briefe 1918–1920, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2013, S. 299f.