Karl Kraus will keinen Brief von Kafka

Kafka hat vermutlich mehrere Lesungen von Karl Kraus besucht, zu einer persönlichen Begegnung oder zum Austausch von Briefen ist es jedoch nie gekommen. Auch hat Kraus in seiner Zeitschrift Die Fackel Kafka kein einziges Mal erwähnt, obwohl er sein Werk zweifellos zur Kenntnis nahm und ihn in einem privaten Brief ausdrücklich als »Dichter« bezeichnete – aus seinem Mund die höchste Anerkennung. Der einzige Versuch, Kontakt aufzunehmen, ging von Kafka aus – unter sonderbaren Umständen und ohne Erfolg.

Am 18. November 1917 hielt Karl Kraus in Wien eine Gedenkrede für den befreundeten Lyriker Franz Janowitz, der zwei Wochen zuvor im Alter von nur 25 Jahren an der italienischen Front getötet worden war. Am Ende dieser Rede sagte Kraus: »Ich wartete auf sein Buch und mußte mich mit der Feldpost begnügen. Aus einem bescheidenen Heftchen, das er im Jahre 1913 nur widerwillig einer fragwürdigen Anthologie einverleiben ließ, ertöne nun seine Stimme, so leise, so tief.« Den vollständigen Text dieser Gedenkrede veröffentlichte Kraus im Mai 1918 in der Fackel.

Bei jener »fragwürdigen Anthologie« handelte es sich um den von Max Brod herausgegebenen Band Arkadia. Ein Jahrbuch für Dichtkunst (Kurt Wolff Verlag), in dem 16 Gedichte des noch völlig unbekannten Janowitz abgedruckt worden waren. Dass der Autor ihm diese Stücke nur »widerwillig« überlassen habe, wollte Brod, der sich als ›Entdecker‹ von Janowitz empfand, natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Er besprach sich während eines langen Spaziergangs mit Kafka, was zu tun sei.

Da eine direkte Intervention zwecklos war – Kraus war ein unerbittlicher Gegner von Brod –, schlug Kafka vor, als Vermittler Franz Janowitz' älteren Bruder Hans einzuschalten, der ebenfalls zum Kreis von Karl Kraus gehörte. Mehrere Tage lang war Kafka damit beschäftigt, einen diplomatischen Brief an Hans Janowitz zu formulieren: Max Brod liege nichts an Polemik oder öffentlicher Richtigstellung, schrieb Kafka, doch habe er damals, 1913, einen Brief von Franz Janowitz erhalten, dessen Ton die Dankbarkeit für Brods Engagement eindeutig bezeuge. Diesen Brief schrieb nun Kafka eigenhändig ab und legte ihn dem Schreiben an Hans Janowitz bei – mit der Bitte, ihn an Kraus zur persönlichen Kenntnisnahme weiterzuleiten.

Es dauerte mehrere Monate, ehe die Antwort von Hans Janowitz eintraf. Nach den Erinnerungen Brods hatte sie folgenden Wortlaut: »Sehr geehrter Herr Kafka! Ich bin nicht in der Lage, Ihren Brief an Herrn Karl Kraus weiterzuleiten. Herr Kraus würde auch keinesfalls eine Erklärung von Herrn Brod entgegennehmen.«

 

Quellen: Karl Kraus, ›In memoriam Franz Janowitz (Gesprochen am 18. November 1917)‹, in: Die Fackel, Heft 474-483 (23. Mai 1918), S. 69-70. – Max Brod, Streitbares Leben. Autobiographie 1884–1968, Frankfurt am Main 1979, S. 73-80. – Christian Wagenknecht, ›Über Karl Kraus über Kafka‹, in: Brücken, N.F. 4 (1996), S. 33-46.

Der Brief Kafkas an Hans Janowitz ist nicht erhalten, ebenso wenig dessen Antwort. Der Inhalt beider Schreiben lässt sich lediglich aus den in Brods Autobiographie wiedergegebenen Zitaten rekonstruieren.

Abbildung: Widmungsgedicht von Karl Kraus in dem posthum erschienenen Band von Franz Janowitz, Auf der Erde. Gedichte, München (Kurt Wolff) 1919, Seite 7 (vergrößertes Faksimile).