Der grosse Schwimmer! Der grosse Schwimmer! riefen die Leute. Ich kam von der Olympiade in X, wo ich einen Weltrekord im Schwimmen erkämpft hatte. Ich stand auf der Freitreppe des Bahnhofes meiner Heimatsstadt — wo ist sie? — und blickte auf die in der Abenddämmerung undeutliche Menge. Ein Mädchen dem ich flüchtig über die Wange strich, hängte mir flink eine Schärpe um, auf der in einer fremden Sprache stand: Dem olympischen Sieger. Ein Automobil fuhr vor, einige Herren drängten mich hinein, zwei Herren fuhren auch mit, der Bürgermeister und noch jemand. Gleich waren wir in einem Festsaal, von der Gallerie herab sang ein Chor, als ich eintrat, alle Gäste, es waren hunderte, erhoben sich und riefen im Takt einen Spruch den ich nicht genau verstand. Links von mir sass ein Minister, ich weiss nicht warum mich das Wort bei der Vorstellung so erschreckte, ich mass ihn wild mit den Blicken, besann mich aber bald, rechts sass die Frau des Bürgermeisters, eine üppige Dame, alles an ihr, besonders in der Höhe der Brüste, erschien mir voll Rosen und Straussfedern. Mir gegenüber sass ein dicker Mann mit auffallend weissem Gesicht, seinen Namen hatte ich bei der Vorstellung überhört, er hatte die Elbogen auf den Tisch gelegt — es war ihm besonders viel Platz gemacht worden — sah vor sich hin und schwieg, rechts und links von ihm sassen zwei schöne blonde Mädchen, lustig waren sie, immerfort hatten sie etwas zu erzählen und ich sah von einer zur andern. Weiterhin konnte ich trotz der reichen Beleuchtung die Gäste nicht scharf erkennen, vielleicht weil alles in Bewegung war, die Diener umherliefen, die Speisen gereicht, die Gläser gehoben wurden, vielleicht war alles sogar allzusehr beleuchtet. Auch war eine gewisse Unordnung — die einzige übrigens — die darin bestand dass einige Gäste, besonders Damen, mit dem Rücken zum Tisch gekehrt sassen undzwar so, dass nicht etwa die Rückenlehne des Sessels dazwischen war, sondern der Rücken den Tisch fast berührte. Ich machte die Mädchen mir gegenüber darauf aufmerksam, aber während sie sonst so gesprächig waren, sagten sie diesmal nichts, sondern lächelten mich nur mit langen Blicken an. Auf ein Glockenzeichen — die Diener erstarrten zwischen den Sitzreihen — erhob sich der Dicke gegenüber und hielt eine Rede. Warum nur der Mann so traurig war! Während der Rede betupfte er mit dem Taschentuch das Gesicht, das wäre ja hingegangen, bei seiner Dicke, der Hitze im Saal, der Anstrengung des Redens wäre das verständlich gewesen, aber ich merkte deutlich, dass das Ganze nur eine List war, die verbergen sollte, dass er sich die Tränen aus den Augen wischte. Nachdem er geendet hatte, stand natürlich ich auf und hielt auch eine Rede. Es drängte mich geradezu zu sprechen, denn manches schien mir hier und wahrscheinlich auch anderswo der öffentlichen und offenen Aufklärung bedürftig, darum begann ich:
Geehrte Festgäste! Ich habe zugegebenermassen einen Weltrekord, wenn Sie mich aber fragen würden wie ich ihn erreicht habe, könnte ich Ihnen nicht befriedigend antworten. Eigentlich kann ich nämlich gar nicht schwimmen. Seitjeher wollte ich es lernen, aber es hat sich keine Gelegenheit dazu gefunden. Wie kam es nun aber, dass ich von meinem Vaterland zur Olympiade geschickt wurde? Das ist eben auch die Frage die mich beschäftigt. Zunächst muss ich feststellen, dass ich hier nicht in meinem Vaterland bin und trotz grosser Anstrengung kein Wort von dem verstehe was hier gesprochen wird. Das naheliegendste wäre nun an eine Verwechslung zu glauben, es liegt aber keine Verwechslung vor, ich habe den Rekord, bin in meine Heimat gefahren, heisse so wie Sie mich nennen, bis dahin stimmt alles, von da ab aber stimmt nichts mehr, ich bin nicht in meiner Heimat, ich kenne und verstehe Sie nicht. Nun aber noch etwas, was nicht genau, aber doch irgendwie der Möglichkeit einer Verwechslung widerspricht: es stört mich nicht sehr, dass ich Sie nicht verstehe und auch Sie scheint es nicht sehr zu stören, dass Sie mich nicht verstehen. Von der Rede meines geehrten Herrn Vorredners glaube ich nur zu wissen dass sie trostlos traurig war, aber dieses Wissen genügt mir nicht nur, es ist mir sogar noch zuviel. Und ähnlich verhält es sich mit allen Gesprächen, die ich seit meiner Ankunft hier geführt habe. Doch kehren wir zu meinem Weltrekord zurück
Entstanden ist dieses Fragment wahrscheinlich am 28. August 1920 in Prag. Es ist überliefert im sogenannten ›Konvolut 1920‹, das aus 51 losen Blättern besteht.
Bemerkenswert sind die von Kafka am Anfang des Textes vorgenommenen Korrekturen. Statt »Ich kam von der Olympiade in X, wo ich einen Weltrekord im Schwimmen« hieß es im Manuskript zunächst: »Ich kam von der Olympiade in Antwerpen, wo ich den Weltrekord im Schwimmen über 1500«. Die Olympischen Sommerspiele des Jahres 1920 fanden tatsächlich in Antwerpen statt. Sieger über 1500 m sowie 400 m Freistil wurde der Amerikaner Norman Ross (siehe Abbildung), der anschließend über 100 m Freistil disqualifiziert wurde.
Zur Frage, wie es möglich ist, dass der Inhaber des Weltrekords gar nicht schwimmen kann, notierte Kafka etwa zwei Monate später eine Erklärung:
»Ich kann schwimmen wie die andern, nur habe ich ein besseres Gedächtnis als die andern, ich habe das einstige Nicht-schwimmen-können nicht vergessen. Da ich es aber nicht vergessen habe, hilft mir das Schwimmen-können nichts und ich kann doch nicht schwimmen.«
Zitiert nach: Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente, Band II, hrsg. von Jost Schillemeit, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1992, S. 254-257 und 334. Zur Frage der Datierung siehe den zugehörigen Apparatband, S. 68ff.