Beschwichtigen konnte Kafka seine Skrupel gegenüber Lügen nur dann, wenn sie eindeutig nicht im eigenen Interesse waren. So verschwieg er im Herbst 1917 gegenüber seinen Eltern den Ausbruch der Tuberkuloseerkrankung, und um diese Täuschung aufrecht erhalten zu können, war er gezwungen, für den dreimonatigen Erholungsurlaub, den seine Behörde ihm genehmigte, eine andere Erklärung zu liefern. Man gönne ihm diese Pause wegen seiner »Nervosität«, behauptete Kafka. Dass seine Eltern dies tatsächlich glaubten, ehe sie Monate später doch die Wahrheit erfuhren, ist erstaunlich genug. Denn während des Kriegs wurde den nicht eingezogenen Beamten sogar der reguläre zweiwöchige Urlaub verweigert, und eine Beurlaubung wegen Nervosität war ganz undenkbar.
Eine Lüge gegen das Interesse des anderen, noch dazu mündlich vorzutragen, konnte für Kafka zum unüberwindlichen Problem werden. So gelang es ihm im August 1920 nicht, für einen kurzen Besuch in Wien, um den ihn Milena Jesenská händeringend gebeten hatte, Urlaub von seinen wohlwollenden Vorgesetzten zu erlangen. Denn dazu hätte er einen dringenden Anlass, möglichst familiärer Art, vorbringen müssen.
Jesenská, die in dieser Hinsicht weniger skrupulös war, schlug vor, Kafka solle einen Onkel Oskar oder eine Tante Klara erfinden, die schwer erkrankt seien; auch könne er ein fingiertes Telegramm vorlegen. Doch obwohl Kafka ihr versichert hatte, »ich kann auch im Amt lügen, aber nur aus 2 Gründen, aus Angst ... oder aus letzter Not«, nämlich um ihretwillen, konnte er sich nicht dazu durchringen. Das bedeutete einen Wendepunkt der Beziehung. Denn Jesenská verzieh ihm dieses Versagen nicht, trotz der scherzhaften Wendung, die Kafka der Angelegenheit noch zu geben suchte:
Glaubst Du denn ich könnte, von allem andern abgesehn, zum Direktor gehn und ohne zu lachen von der Tante Klara erzählen? ... Also das ist ganz unmöglich. Gut, dass wir sie nicht mehr brauchen. Mag sie sterben, sie ist ja doch nicht allein, Oskar ist bei ihr. Allerdings, wer ist Oskar? Tante Klara ist Tante Klara, aber wer ist Oskar? Immerhin, er ist bei ihr. Hoffentlich wird er nicht auch krank, der Erbschleicher.
Quellen: Visitenkarte an Eugen Pfohl in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt Prag, 23. September 1912, in: Franz Kafka, Briefe 1900-1912, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S.Fischer) 1999, S. 172. Postkarte an Ottla Kafka, 6. September 1917, in: Franz Kafka, Briefe April 1914-1917, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S.Fischer) 2005, S. 315. Briefe an Milená Jesenská, 31. Juli und 2./3. August 1920, in: Franz Kafka, Briefe 1918-1920, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt am Main (S.Fischer) 2013, S. 268, 278.
Vgl. Milena Jesenskás Schilderung dieses Vorfalls in einem Brief an Max Brod, in: dies., »Ich hätte zu antworten tage- und nächtelang«. Die Briefe von Milena, hrsg. von Alena Wagnerová, Mannheim 1996, S. 42. (Die Datierung dieses Briefs auf »Anfang August 1920« erscheint zweifelhaft: Zu diesem Zeitpunkt war über Kafkas Reise nach Wien noch gar nicht endgültig entschieden, Jesenská aber schreibt: »Es war mir damals sehr notwendig.«)