Aus unvollendeten Werken — vor allem aus den drei Romanen — las Kafka regelmäßig seinen Freunden und vermutlich auch der Schwester Ottla vor. Über literarische Projekte hingegen, die er noch gar nicht in Angriff genommen hatte, schwieg er gewöhnlich.
Eine seltene Ausnahme ist die erzählerische Idee, die er im Januar 1918 gegenüber dem Schriftsteller Oskar Baum preisgab, einem seiner nächsten Freunde. Baum besuchte Kafka im nordwestböhmischen Dorf Zürau, wo Ottla einen kleinen Hof bewirtschaftete und wo sie über den Winter auch ihren an Tuberkulose erkrankten Bruder beherbergte. Da hier Baum und Kafka im selben Zimmer nächtigten, ergab sich die Gelegenheit zu langen Gesprächen, und Baum hat später berichtet, in jener einen Woche habe er über Kafka mehr erfahren als in den zehn Jahren zuvor und den fünf Jahren danach. Auch habe Kafka ihm von zahlreichen literarischen Entwürfen und Plänen erzählt, »ohne die Hoffnung, ja ohne die Absicht, sie je auszuführen«. An eine dieser ungeschriebenen Erzählungen erinnerte sich Baum genau:
»Ein Mann will die Möglichkeit einer Gesellschaft schaffen, die zusammenkommt, ohne eingeladen zu sein. Menschen sehen und sprechen und beobachten einander, ohne einander zu kennen. Es ist ein Gastmahl, das jeder nach seinem eigenen Geschmack, für seine Person bestimmen kann, ohne daß er irgendwem beschwerlich fällt. Man kann erscheinen und wieder verschwinden, wenn es einem beliebt, ist keinem Hauswirte verpflichtet und ist doch, ohne Heuchelei, immer gern gesehen. Als es zum Schluß tatsächlich gelingt, die skurrile Idee in Wirklichkeit umzusetzen, erkennt der Leser, daß auch dieser Versuch zur Erlösung des Einsamen nur — den Erfinder des ersten Kaffeehauses hervorgebracht hat.«
Quelle: Oskar Baum, ›Rückblick auf eine Freundschaft‹, in: »Als Kafka mir entgegen kam …« Erinnerungen an Franz Kafka, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Berlin 1995, S. 66-70, hier S. 70.