Die Tochter des Chefs – ein Alptraum

Foto von Berta Marschner
© Reinhard Pabst, Bad Camberg

Berta Marschner (1900-1972), die Tochter von Dr. Robert Marschner, seit 1909 leitender Direktor der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt in Prag und damit Kafkas höchster Vorgesetzter. Kafka erwähnt das Mädchen im Zusammenhang einer Traumschilderung:

Foto von Berta Marschner
© Reinhard Pabst, Bad Camberg

Eine schreckliche Erscheinung war heute in der Nacht ein blindes Kind scheinbar die Tochter meiner Leitmeritzer Tante die übrigens keine Tochter hat sondern nur Söhne, von denen einer einmal den Fuss gebrochen hatte. Dagegen waren zwischen diesem Kind und der Tochter Dr. Marschners Beziehungen, die, wie ich letzthin gesehen habe, auf dem Wege ist, aus einem hübschen Kind ein dickes steif angezogenes kleines Mädchen zu werden. Dieses blinde oder schwachsichtige Kind hatte beide Augen von einer Brille bedeckt, das linke unter dem ziemlich weit entfernten Augenglas war milchgrau und rund vortretend, das andere trat zurück und war von einem anliegenden Augenglas verdeckt. Damit dieses Augenglas optisch richtig eingesetzt sei, war es nötig statt des gewöhnlichen über das Ohr zurückgehenden Halters, einen Hebel anzuwenden, dessen Kopf nicht anders befestigt werden konnte als am Wangenknochen, so dass von diesem Augenglas ein Stäbchen zur Wange hinuntergieng, dort im durchlöcherten Fleisch verschwand und am Knochen endete, während ein neues Dratstäbchen heraustrat und über das Ohr zurückgieng.

 

Eine der zahlreichen präzisen Traumschilderungen Kafkas, die in gedruckter Form insgesamt mehr als 50 Seiten umfassen (siehe Franz Kafka, Träume, hrsg. von Gaspare Giudice und Michael Müller, Frankfurt am Main 1993). An einer systematischen Deutung von Träumen scheint Kafka jedoch nicht interessiert gewesen zu sein. Als sich Max Brod im Mai und Juni 1911 mit Freuds Traumdeutung beschäftigte, beteiligte sich Kafka daran nicht.

Wie aus Äußerungen Kafkas in Briefen und Tagebüchern hervorgeht, wurde er von dem literarisch interessierten Direktor Marschner geschätzt und gefördert, obwohl dieser über die kräftezehrende schriftstellerische Nebentätigkeit seines Angestellten durchaus im Bilde war. So verhinderte Marschner den Kriegseinsatz Kafkas, indem er dessen Wunsch, sich der österreichischen Armee anzuschließen, beharrlich überging und ihn mehrfach als unentbehrliche Fachkraft reklamierte. Mindestens einmal trat Kafka auch als Vortragender im stadtbekannten literarischen Salon von Marschners Ehefrau Emilie auf. Eine engere private Beziehung zu der Familie bestand aber nicht.
 

Quelle: Tagebucheintrag vom 2. Oktober 1911, in: Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1990, S. 50f.