Die Broskwa-Skizze

Browska_Skizze
Archiv Kafka-Forschungsstelle Wuppertal

Es ist möglich, dass es noch nördlicher gelegene europäische Ansiedlungen gibt als Broskwa, aber verlassener kann keine sein. Nach einigen Menschenaltern wird Broskwa vielleicht eine wichtige und lebhafte Stadt sein, wenn nämlich ein 100 km entfernter natürlicher Hafen von Eisbrechern freigelegt sein wird und wenn die Bahn, die man von Gradula 300 km südlich von Broskwa zu bauen beabsichtigt, bis nach Broskwa geführt sein wird. Aber mit dem allen haben die Lebenden nicht zu rechnen. Wir in Broskwa müssen uns damit begnügen auf den Marktplatz mit den paar Strohhütten eingeschränkt zu bleiben und Sendungen und Nachrichten von auswärts im Sommer zwei oder auch dreimal im Monat, im Winter aber gar nicht zu bekommen. Ich könnte wenn ich einmal nach Europa zurückkäme, viel erzählen, aber ich werde nicht zurückkommen. Es ist merkwürdig, der Mensch muss nur ein wenig an einem Ort niedergehalten werden und schon fängt er an zu versinken. Man sollte meinen, ich strebe nach nichts anderem als von hier fortzukommen, durchaus nicht. Einmal hätte ich Gelegenheit gehabt, mit Brascha, dem Postboten, bei besonders guter Bespannung nach Gradula zu fahren, die Fahrt wäre für mich wegen verschiedener Einkäufe sogar wichtig gewesen, man bat mich förmlich zu fahren, ich überlegte es einen Tag und überliess dann den Platz einem anderen.

Diese Prosaskizze findet sich auf der Rückseite eines einzelnen Blattes, das Kafka 1922 für den Roman Das Schloss verwendete. Es stammt ursprünglich aus dem ›Zehnten Tagebuchheft‹, das er von November 1914 bis Mai 1915 benutzte, in dem jedoch einige Seiten leer geblieben waren. Da außerdem Kafka im selben Winter ein längeres, thematisch eng verwandtes Fragment niederschrieb (Erinnerungen an die Kaldabahn), ist anzunehmen, dass auch die Broskwa-Skizze aus diesem Zeitraum stammt.

Die Orte Broskwa und Gradula sind fiktiv. Broskva ist ein in Tschechien geläufiger Familienname.

 

Quelle: Die Broskwa-Skizze wurde bisher erst zweimal veröffentlicht: Zunächst 1962 innerhalb eines Aufsatzes von Malcolm Pasley (›Franz Kafka Mss: Description and Selected Inedita‹, Modern Language Review, Bd. 57, S. 55); dann im Jahr 2007 in der Zeitschrift Edit (Heft 42, S. 28), versehen mit einem Vorwort von Hans-Gerd Koch sowie den Stellungnahmen von vier Lektoren, denen der Text ohne Angabe des Verfassers zur Begutachtung vorgelegt worden war.