Der Prof. Grünwald auf der Reise von Riva. Seine an den Tod erinnernde deutsch-böhmische Nase, angeschwollene, gerötete, blasentreibende Backen eines auf blutleere Magerkeit angelegten Gesichtes, der blonde Vollbart ringsherum. Von der Fress- und Trinksucht besessen. Das Einschlucken der heissen Suppe, das Hineinbeissen und gleichzeitige Ablecken des nicht abgeschälten Salamistumpfes, das schluckweise ernste Trinken des schon warmen Bieres, das Ausbrechen des Schweisses um die Nase herum. Eine Widerlichkeit, die durch gierigstes Anschauen und Beriechen nicht auszukosten ist.
Der Professor, den Kafka im Oktober 1913 auf seiner Reise zurück vom Gardasee so eingehend studierte, war der Mathematiker Anton Grünwald (1838-1920) von der Deutschen Technischen Hochschule in Prag. Kafka hatte dort im Wintersemester 1909/10 Vorlesungen über mechanische Technologie gehört – eine Fortbildungsmaßnahme für seine Tätigkeit in der Arbeiter-Unfallversicherung. Grünwald war eine prominente Figur an der Hochschule, war auch mehrere Semester lang deren Rektor. Sein Name war der gebildeten Öffentlichkeit auch deshalb geläufig, weil Grünwald eine Mathematiker-Dynastie begründet hatte: Zwei seiner Söhne brachten es ebenfalls zu Professoren der Mathematik, beide lehrten wie er in Prag.
Wo genau Kafka den der Völlerei ergebenen Professor fixierte – ob im Restaurant oder im Speisewagen –, lässt sich aus der knappen Notiz nicht erschließen. Bemerkenswert und für Kafka sehr charakteristisch ist jedoch, dass er seine Beobachtungen erst mehrere Tage nach der Rückkehr in Prag notierte, die sinnlichen einschließlich der »widerlichen« Details also gleichsam fotografisch gespeichert hatte.
Quellen: Franz Kafka, Tagebücher, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt am Main (S. Fischer) 1990, S. 583. – Die k.k. Deutsche Technische Hochschule in Prag 1806-1906. Festschrift zur Hundertjahrfeier, hrsg. von Franz Stark, Prag 1906.