Zdeněk – in Kafkas Tagebüchern und Familienkorrespondenz würden wir nach dem Namen seines Vetters vergeblich suchen. Auch der Kafka-Forschung, die schon die abgelegensten Ecken und Winkel auf der Suche nach Informationen über den Schriftsteller und seine Mischpoche leerfegte, sind nicht viel mehr als seine Lebensdaten bekannt.
Geboren wurde der fünfte Sohn des ältesten Bruders von Hermann Kafka, Filip, 1885 im böhmischen Kolín, gestorben ist er 1949 in den USA. Überliefert ist auch ein Bild von ihm: Auf einem Familienfoto, um 1910 entstanden, können wir ihn neben seinem älteren Bruder Robert sehen, der den Arm um seine Schultern legt. Zwei weitere Söhne von Filip Kafka, der älteste, Otto, und der jüngste, Franz, fehlen auf dem Bild; beide sind nach Amerika ausgewandert, Otto 1897, Franz 1909. Zdeněk sollte ihnen 1921 folgen. Damit ist auch klar, dass seine Auswanderungsgeschichte dem später berühmten Vetter nicht als Inspirationsquelle beim Schreiben seines 1912 begonnenen Romans Der Verschollene dienen konnte.
Nach Anthony Northey wollten die amerikanischen Vettern von ihrer Verwandtschaft mit dem berühmten Schriftsteller nichts wissen. Wenn wir nun die Akte von Zdeněk Kafka, die schon fast hundert Jahre im Archiv der Prager Polizeidirektion ruht, durchblättern, wird uns schnell klar, warum besonders er kein Interesse daran haben konnte, auf seine böhmische Vergangenheit aufmerksam zu machen. Denn sie war alles andere als vorbildlich.
Seine Karriere in den Akten der Prager Polizeidirektion beginnt mit der Zuschrift des Bezirksgerichtes in Chrudim vom 26. Dezember 1913. »In der Strafsache gegen Zdeněk Kafka, einen ehemaligen Schuhfabrikanten in Holice« wird die Prager Polizei »um das Ermitteln des Wohnsitzes des Obengenannten« gebeten. Bei dem Strafverfahren sollte es sich um ein Vergehen gegen die Bestimmungen des Konkursparagraphen 486 des österreichischen Strafgesetzbuches handeln. Den Notizen auf der Rückseite des Schreibens kann man entnehmen, dass Zdeněk Kafka offensichtlich mehr oder weniger fluchtartig Holice verliess und durch mehrmaligen Wohnwechsel wohl versuchte, aus dem Blickfeld der Polizei in Chrudim zu verschwinden. Mit Holice hat Zdeněk Kafka auch seine Frau Štěpánka, geborene Brok, mit der einjährigen gemeinsamen Tochter Klára verlassen.
Im Strafverfahren wurde Zdeněk Kafka am 18. Juni 1914 von der Anschuldigung, die Geschäftsbücher nicht ordnungsgemäss geführt zu haben und damit den Überblick über seine Geschäfte zu erschweren, zwar freigesprochen, eine weitere amtliche Anfrage liess aber nicht lange auf sich warten. Diesmal war es das wachsame Gericht des Festungskommandos in Krakau – der Erste Weltkrieg war inzwischen ausgebrochen, und Zdeněk Kafka war eingezogen worden –, das sich an die Prager Polizeidirektion mit der Frage wandte, ob der Feldwebel Zdenko Kafka tatsächlich Direktor und Mitinhaber der Schuhfabrik Švagera und Heller in Prag sei, wie er angab; wegen dringender geschäftlicher Angelegenheiten hatte er um einen zwei- bis dreiwöchigen Urlaub nachgesucht. Daraufhin teilte die Firma Švagera mit, dass Zdeněk Kafka vor seiner Einrückung lediglich als Buchhalter bei der Firma angestellt war, mit der Leitung der Fabrik überhaupt nichts zu tun hatte und keinen Urlaub brauche. Ob die Täuschung der Militärbehörde für Kafka noch andere Folgen hatte, ist aus dem vorhandenen Dokumentenkonvolut nicht zu erfahren.
Im Schreiben aus Krakau wird Kafkas Vorname in der Form Zdenko angegeben, die für das tschechische Ohr sowohl slawischer als auch vornehmer klingt als Zdeněk. Und angeben wollte Zdeněk alias Zdenko Kafka wohl immer. Der Vorname Zdenko führt freilich auch zurück nach Osek, woher die Familie Kafka stammte: Zdenko Čejka war der protestantische Adelige, der nach dem Sieg der Gegenreformation 1627 des Landes verwiesen und dessen Besitz in Osek konfisziert wurde. Ein Zufall oder ein Zeichen der Verbundenheit mit dem Herkunftsort und seiner Geschichte? Unter den anderen Vornamen in der Familie fällt Zdeněk jedenfalls auf.
Irgendwie war es Zdenko Kafka doch gelungen, aus der k.u.k. Armee freizukommen, wenn er schon am 12. Februar 1918 die Gründung einer Agentur mit Papierwaren in Prag VII ankündigen konnte. Anderthalb Jahre später, am 25. Juli 1919, beantragt er aber schon die Ausstellung eines Reisepasses für die USA. In einem Begleitschreiben gibt er an, durch den Militärdienst seine Existenz verloren zu haben. In dieser Lage kann sein Bruder Otto Kafka, Direktor der Eisenwerke in New York, »der immer ein guter Tscheche war, was auch ich von mir sagen kann«, ihm eine neue Existenz besorgen. Deswegen schickte jener ihm auch 500 Dollar, damit er die Reise antreten kann, um sich bei der amerikanischen Firma, die er in Prag dann vertreten soll, einzuarbeiten und dann zu seiner Familie zurückzukehren. Inzwischen hat aber der Inhaber der Firma Bohumil Eisner in Prag eine Anzeige gegen Zdenko Kafka erstattet, wegen 2225 Kronen, einer damals nicht ganz kleinen Summe, die er ihm schuldig blieb. Und er schlug gleich Alarm: Kafka bereite offensichtlich eine Ausreise in die USA vor, ohne vorher die Schulden zu zahlen. So musste Zdenko Kafka wenigstens bei der Firma Eisner – vielleicht wieder mit Hilfe seines Bruders – die Forderung ausgleichen, bevor er am 28. November die Grenze der Tschechoslowakei in Bodenbach überschreiten und sich am 9. Dezember in Kopenhagen einschiffen konnte.
Seinen Reisepass liess er in den USA dreimal verlängern, bis er im Oktober die Heimreise über Cherbourg und Kehl antrat. Nach der Rückkehr gründete er in Prag VII an der Jeruzalémská-Strasse 14 eine Filiale der New Yorker Firma Lyon & Quinn, deren Zentrale sich angeblich in der Nassau Street 150 in New York City befand. Den Aufenthalt in Prag nutzte er auch dazu, sich einen Waffenschein zu besorgen. Gleichzeitig beantragte er einen neuen Reisepass, den er am 21. März 1921 auch bekam.
Mit der Ausreise musste es Zdenko Kafka eilig haben. Denn kaum hatte er den Kontinent verlassen, kamen schon die ersten Forderungen nach seiner Festnahme wegen Schulden. So blieb z. B. bei der Firma Schramm in Teplitz-Schönau eine Rechnung in Höhe von 2301 Kronen für Ware offen, die er bei ihr gekauft, aber nicht bezahlt hatte. Und die Filiale der Firma Lyon & Quinn an der Jeruzalémská 14 wurde nach ergebnisloser Pfändung gerichtlich geschlossen. Die Nachfragen bei der Ehefrau ergaben zuerst, dass er in New York bei der Zentrale der Firma arbeitete und im April zurückkehren sollte. Am 9. Oktober 1922 befragt, sagte Štěpánka Kafková die Wahrheit: Ihr Mann werde nicht mehr aus Amerika zurückkehren.
Ausser Schulden hinterliess Zdenko Kafka in Prag die Ehefrau mit zwei Töchtern, der zehnjährigen Klára und der achtjährigen Melanie. Bis 1935 blieben die drei Frauen weiterhin in der Wohnung an der Šimáckova-Strasse 26 in Prag VII. Dann zogen sie mehrmals um. Wovon sie lebten, ist nicht feststellbar. In dem Melderegister ist Štěpánka Kafková als Hausfrau aufgeführt. Zdenko Kafka fand letztlich seine neue Bleibe in Texas, liess sich von seiner Frau scheiden, heiratete wieder und wurde am 31. Dezember 1927 Vater von Zwillingen, zwei Mädchen.
Man kann sich kaum vorstellen, dass in der Familie Kafka und der weiteren Verwandtschaft Zdenko Kafkas Karriere als unehrlicher Kaufmann kein Gesprächsthema war. Überliefert ist davon nichts.